In den hohen Norden
Als ich am Morgen des 10. März an Deck kam: klares Wetter! Die Welt war wieder blau! Zerbrochene Schollen und Eisströme – Kundschafter und Vorboten des Geschwaders der Großen Weißen Flotte, die Straßen und Gassen eines herrlichen Venedig im Schnee. Burgen, Türme, ja ganze Kathedralen wankten um uns herum. Wir segelten an einem Eisberg vorüber, geformt wie ein prähistorisches Monster mit dem Gesicht eines Schweinchens. Jedesmal, wenn es gemächlich auftauchte, lief das Wasser wie Tränen an ihm herab. Ein anderer Eisberg war rund wie eine umgekehrte Kaffeetasse und mit einem Gletscher bedeckt, der so zerrissen und zerklüftet war, daß die Eisblöcke nach allen Seiten hinausstanden wie die Stacheln eines Igels. Und eine weitere Eismasse von 10 Meter Durchmesser sah genau wie ein Apfelpudding mit überstehendem Teigrand aus – sogar die 4 Einschnitte, die die Hausfrau auf den Teigdeckel macht, waren vorhanden! All diese seltsamen, phantastischen Gebilde hoben und senkten sich in majestätischem Rhythmus, begleitet von knisternden, flüsternden Geräuschen und dem hohlen Echo der dumpf aufschlagenden Wellen.
Vor allem aber ist es das Nordlicht, welches den Neuling in jenen Gegenden mit Staunen erfüllt – jenes ungelöste Räthsel, welches die Natur mit feurigen Lettern an den arktischen Sternenhimmel geschrieben hat. Zuweilen gleicht das hastige Aufsteigen sich aufrollender Lichtballen dem heftigen Empordringen wirbelnder Dämpfe. Eine Krone mit feurigen Zungen zieht sich abwärts und vereinigt sich dort mit Bändern und Draperien; fächerförmige Flammengarben entzünden sich plötzlich und gehen in weiche, flatternde, in allen Regenbogenfarben spielende Wimpel über. In wilder Jagd wetteifern die Strahlen, wer von ihnen zuerst den Pol erreicht.
Eingeschlossen im Packeis
Die Temperaturen waren Tag und Nacht sehr niedrig und das Packeis bildete eine feste Mauer um das Schiff. Nun hatte ich endgültig keinen Zweifel mehr, daß die »Morgenröte« festsaß und so verwandelten wir unser Schiff, so gut wir konnten, allmählich in ein behagliches Winterquartier.
Im Laderaum schafften wir Platz, um dort eine Druckerei einzurichten. Die Schmiede war anfänglich auf Deck und später auf dem Eis; die Klempnerarbeiten wurden im Schlittendepot erledigt. Mit der größten Arbeit verknüpft waren die meteorologischen Messungen, die Tag und Nacht alle zwei Stunden vorgenommen wurden.
Registrierung plötzlich aufspringender Orkane am 16. März, am 20. März und am 1. April.
Zu unseren wissenschaftlichen Aufgaben gehörte auch die Sammlung und Untersuchung der in diesen nördlichen Meeren gefundenen Tiere:
Einmal tauchte ein Kaiserpinguin auf. Pilgram stürzte sich auf ihn, wurde jedoch umgehend von dem wütenden Pinguin k.o. geschlagen, der obendrein triumphierend auf seine Brust hüpfte, bevor er Reißaus nahm. Krištof eilte Pilgram zu Hilfe. Gemeinsam umzingelten sie den Pinguin, banden ihm den Schnabel zu und eskortierten ihr erstickte Proteste von sich gebendes Opfer zum Schiff. Der Vogel sah aus wie ein betrunkener alter Mann zwischen zwei Polizisten; er brachte immerhin 85 Pfund auf die Waage.
Harpunier Sitter schoß ein Prachtexemplar einer Bürgermeister-Möve für die zoologische Sammlung; deren Fleisch wird den Hunden gegeben.
Von besonderem Interesse aber war der Fang eines Schlammfisches von etwa 15 cm Länge und aalartiger Gestalt mit geflecktem Fell.
Unsere Haupt-Freizeitbeschäftigung bildete das Hockey- und Fußballspielen auf der Eisscholle und sämtliche Crewmitglieder genossen so manch spannendes Spiel.
Abends spielten einige Bridge, Poker und Domino. Die Messe verwandelte sich in einen stillen Lesesaal, in welchem von der wertvollen Bibliothek reicher Gebrauch gemacht wurde. Ambrusch-Rapp kann Dickens und Kipling nicht ausstehen; sie schwärmt mehr für einen bekannten französischen Schriftsteller, dessen Namen sie vernünftigerweise »Dumb-ass« aussprach. Um die deutschen Bücher haben wir uns nicht gerissen.
Wider den Stillstand
Nach der zweiten Woche im Eis sagte Strasser etwa folgendes: »In allen Lebensperioden, die eine Tendenz zur Eintönigkeit haben und in denen es wenig gibt, um einen Tag vom andern zu unterscheiden, ist es gut, feste Werktage zu haben, die als Meilenzeiger auf das Hinrauschen der Zeit warnend aufmerksam macht.«
Seither sitzt er von Montag bis Samstag jeweils mehrere Stunden im Kartenhaus und berechnet akribisch unsere Drift mit dem Eise.
 
 
Die Sonn- und Feiertage hält Strasser strikt als Ruhetage ein. (Am Palmsonntag ging er mit Pastor Oswald auf dem Eis spazieren. Dabei hat sich Oswald das Gesicht erfroren. Strasser hat ihn mit einem Eisklotz eingerieben und ihm dabei die ganze Wange aufgerieben. Oswald hatte an der Wange einige Tage zu heilen und konnte nicht an Deck gehen.)
Hunger
Wir verminderten die täglichen Rationen auf das äußerste, und litten infolgedessen fürchterlich unter dem Hunger. Besonders quälte uns ein förmlicher Heißhunger nach Fett. Und Fischer-Kondratovitch fragte mich eines Tages, ob ich glaube, daß es ihm schaden könne, wenn er die Stiefelschmiere austränke.
Jede Nacht träumten wir vom Essen:
Es war der erste Weihnachtsfeiertag, und ich wurde in ein großes leeres Zimmer geführt, wo wir zu Mittag speisen sollten. Es dampften bereits einige heiße Schüsseln auf der Tafel sowie eine wunderschöne fette Gans. Oh, wie unsagbar freute ich mich auf die Gans! Dann trafen andere Gäste ein. Als ich hingehen wollte, um sie zu begrüßen, stapfte ich plötzlich durch tiefen Schnee. Wie das mitten im Speisesaal möglich war, weiß ich nicht. Der Wirt amüsierte sich darüber und lachte – und ich wachte auf und fand mich zitternd vor Kälte in einem Schlafsack auf dem Treibeis im fernen Norden.
Tagesration. (Pemmikan, Schiffszwieback, Butter, Kakao, Zucker und Tee.)
Küchenjunge Pickl wurde um 7 1/2 Uhr Abends plötzlich vermisst, so daß mit Hinblick auf die seit einigen Tagen an demselben bemerkte Geistesstörung sofort mehrere Abtheilungen ausgesendet wurden, um ihn zu suchen.
Mit aufgerissenem Anzug lag er auf den Knien, die Hände waren nackt und erfroren, und in seinen Augen war ein wilder Blick! Als Antwort auf eine Frage lallte er nur etwas Unverständliches.
Wir richteten ihn auf, aber nach 2 oder 3 Schritten sank er wieder auf den Schnee und versuchte, auf allen vieren zu kriechen. Als wir ihn zurück zum Schiff gebracht hatten, war er ohne Bewußtsein.
Anfang April wurden wir alle schneeblind und hatten unerträgliche Augenschmerzen, dass einem Tränen über die Wangen liefen. Selbst wenn der Schmerz nachließ, blieben die Augen getrübt, alle Gegenstände schienen wie in Nebel getaucht, manchmal sieht man sie sogar doppelt.
Letzter Eintrag
12. April: Ostersonntag im Polarmeer.
Auch wir mit unseren ärmlichen Mitteln feiern ein Fest. Pilgram hat sein Hemd gewendet und außerdem das untere Hemd über das obere gezogen. Ich habe dasselbe getan und dann die Unterhosen gewechselt.
Wir erfrischten uns, indem wir unser altes Schuhwerk und einige Lederfetzen aufaßen.
Zur allgemeinen Zerstreuung haben wir auf dem Eise ein Schnee-Eier-Suchen veranstaltet.
Kapitänin Izmaylova mit Schneeei.
Strasser sagt, es gebe ein irisches Sprichwort, das ungefähr so laute:
Sei glücklich;
wenn du nicht glücklich sein kannst,
sei sorglos;
und wenn du nicht sorglos sein kannst,
sei wenigstens so sorglos wie möglich.

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