Textproben

Dordolla | Dordole (Aus: I. KOMMEN UND GEHEN – Zweitägige Wanderung nach Dordolla und zurück)

Ein Dorf wie ein Amphitheater: Eine ansteigende Häuserreihe und das sakral anmutende Gemeindezentrum umrahmen den Dorfplatz im Halbrund. Ein Acker stellt die Bühne dar, das Kriegerdenkmal den Souffleurkasten. Der Zuschauerraum ist mit Autos und motocarriole vollgestellt, erste Reihe Balkon sitzt man auf der Veranda der Bar da Fabio. 2017 fand hier vor großem Publikum eine Opernaufführung statt. Gegeben wurde die Revolutionsoper »Sisifo & Naranama«, die den klassischen Sisyphos-Stoff mit der Geschichte der Region und des Dorfes verknüpfte. Die passende Naturkulisse steuerte die Creta Grauzaria mit ihren schroffen Felswänden und steilen Schuttkegeln bei. Sie ist das Wahrzeichen des Tales und Sinnbild der Erosion. Felsstürze sind keine Seltenheit.

Im dritten Akt der Oper verwandelt sich Dordolla in einen Gulag für Dissidenten vom Schlage Sisyphos’. Wer sich den Göttern (einer Bande korrupter Bürokraten und dekadenter Tyrannen) nicht unterwirft, muss zur Strafe sinnlose Arbeit im Steinbruch verrichten. Das vermag den Titelhelden und seine ebenso widerständige Geliebte Naranama nicht zu brechen. Sie zetteln einen Aufstand der Gefangenen an, Zeus und seine Kumpanen werden gestürzt, die befreiten Untertanen tragen den Geist der Revolution in alle Welt.
Im richtigen Leben ist der Kampf von Sisyphos & Co längst nicht ausgestanden. In Dordolla verkörpern Kaspar Nickles und Marina Tolazzi dieses Schicksal. Sie leben hier seit 2005 als Bio-Bergbauern und betreiben den Agriturismo Tiere Viere im Ortsteil Drentus. Damit knüpfen sie an die Arbeit vergangener Generationen an, die im Aupatal eine kleinteilige Kulturlandschaft aus winzigen Feldern, steilen Futterwiesen und befestigten Pfaden schufen. Was anderswo verwildert, wird von ihnen in mühsamer Handarbeit erhalten und landwirtschaftlich genutzt. Angebaut werden Mais, Kartoffel, Bohnen und Gemüse; dazu kommt das Fleisch von Krainer Steinschafen, einer seltenen alten Haustierrasse. Die Schafzucht wurde kürzlich – in Kooperation mit anderen Landwirten – auf die Bewirtschaftung mehrerer Almen ausgeweitet.
Es ist ein steiniger Weg, den Kaspar und Marina eingeschlagen haben. Da ist zum einen das wenig ertragreiche Gelände, zum anderen der Umstand, dass Grund und Boden infolge der sogenannten Realteilung (einer Form des Erbrechtes, bei der der Grundbesitz stets auf alle Nachkommen aufgeteilt wird) extrem fraktioniert und die Eigentümer in alle Winde verstreut sind. Das erschwert die Pacht oder den Zukauf dringend benötigter Flächen und erfordert eine komplizierte Logistik. Ein weiteres Hemmnis ist die überbordende italienische Bürokratie, einschließlich eines chaotischen Fördersystems und des schikanösen Fiskus. Dazu kommt, dass die Revitalisierung des Dorfes nicht von allen BewohnerInnen mitgetragen wird. Denn der frische Wind aus Drentus bringt auch Unruhe ins Dorf, nicht zuletzt in Form kultureller Aktivitäten, die – wie der jährliche Harvest – manchmal Busladungen von Besucher­Innen anziehen. Auch der Wandertourismus hat spürbar zugenommen.
Das markante Ortsbild zählt (neben der schönen Landschaft) zu den größten Vorzügen des Dorfes, auch wenn das Sprichwort »Venezia è bella, Dordolla è sua sorella« reichlich hoch gegriffen scheint. Kennzeichnend ist die ungewöhnliche Verdichtung der Häuser, deren Dächer von oben betrachtet ein fast geschlossenes Blechrelief ergeben. Im Ortskern findet sich ein einziges freistehendes Gebäude, alle anderen bilden einen urban anmutenden Verbund aus mehrstöcki­gen und auffällig schma­len Häusern. Die engen und verwinkelten Gassen vermitteln Ursprünglichkeit, wenngleich viele Häuser kaum älter als 100 Jahre sind. Drei Erdbeben im 20. Jahrhundert haben dem historischen Bestand beträchtlich zugesetzt. Zur angenehmen Atmosphäre tragen unverputzte Fassaden, die grobe Pflasterung und verwitterte Haustüren bei, nicht zu vergessen manch schönes Detail: Hier verwelkt ein Strauß Werbung im Briefschlitz, dort hängen Knoblauchzöpfe von der Dachrinne, eine Wäschespinne hat sich den Arm gebrochen. Ein ständig wiederkehrendes, gleichsam malerisches Element sind die Einsprengsel aus Beton, mit dem man das morsche Mauerwerk oder die Frostschäden am Boden ausgebessert hat. Besonders stimmungsvoll ist die abschüssige piazza mit einem beständig plätschernden Brunnen und zwei tunnelartigen Hausdurchgängen. Bei trübem Wetter wohnt dem Platz etwas Melancholisches, fast Düsteres inne. […]

Foto: Gerhard Pilgram (Dordolla unter dem Hausberg Creta Grauzaria, IT)