DAS
VOLK NEU WÄHLEN? Eröffnungsrede
von Esther Schmidt: Es
ist nicht genug, Künstler in Kärnten auszusetzen und zu schauen,
ob sie panisch oder apathisch werden. Vielmehr ist Kärnten selbst
eine Art Kanarienvogel der Gattung Österreich, wenn die These stimmt,
dass das, was passiert in Kärnten, fast immer eine Vorwegnahme
dessen sei, was demnächst auch in anderen Bundesländern passieren
wird. Das macht Kärnten zu einem privilegierten Ort für seismographische
Studien über den Zustand und die Zusammensetzung der Luft im gegenwärtigen
Österreichs. Gerhard
Pilgram ist vom oberösterreichischen Festival der Regionen im Projekt
»Österreich ist frei« beauftragt worden, ein ganzes
Jahr lang, das letzte Jahr, Klimabeobachtungen durchzuführen. Als
Untersuchungsgegenstand hat er die Leserbriefseiten diverser Tageszeitungen
wie die Krone, die Kleine Zeitung, den Standard und Oberösterreichische
Nachrichten gewählt, Stimmungsverdichtungen und Sprachrohr der
Volksseele. Mit dieser Volksseele hat Gerhard Pilgram einen Dialog geführt.
Wer hin und wieder selbst Leserbriefe liest, weiß, dass diese
Arbeit nicht nur aufs Gemüt schlagen kann. Antisemitische Haltungen
und an Wiederbetätigung grenzende Äußerungen durchbrechen
immer häufiger das Hemmnis der Öffentlichkeit. Doch wie dialogisiert
Gerhard Pilgram nun mit der Volksseele? Die
Leserbriefschreiber werden also ernst genommen. Ernst nehmen heißt
aber auch, dass die Antwort sich bemüht, auf gleicher Ebene zu
bleiben, sie ist keine Reflexion auf einer Metaebene, zu der der andere
keinen Zugang hat, weil er sie nicht versteht oder eben schon reflektiert
ist. Die Antworten auf die Briefe halten das Feld offen, sie sind Aktionen,
keine hermetischen Objekte. Sie sind auch nicht frei von den Stimmungen
des Beobachters, mal sind sie melancholisch, mal witzig, mal ironisch
oder auch satirisch. Denn
das durchzieht die Anstrengung: die Frage, die sich Gerhard Pilgram
stellt, »wie man als Künstler, der mit seiner Arbeit so etwas
wie soziale Relevanz erreichen möchte, in Zeiten wie
diesen der sogenannten Bevölkerung überhaupt noch begegnen
kann. Denn die Gefahr, daß man das Interesse verliert an den Leuten,
ist gar nicht so gering.« |