DAS VOLK NEU WÄHLEN?
39 Dialoge mit der österreichischen Seele

ist eine Ausstellung des UNIKUM im Rahmen des Programmzyklus
BEBEN_POTRESI 2001.

Konzept und Realisierung: Gerhard Pilgram
Produktion: Festival der Regionen (OÖ)
Erstpräsentation: Stadtgalerie Wels, Juli 2001
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Eröffnungsrede von Esther Schmidt:

Anna Mitgutsch hat einmal gesagt, Dichter und Dichterinnen hätten eine ähnliche Funktion wie Kanarienvögel, die von Bergleuten als Frühwarnsystem in die Grube mitgenommen werden, weil sie Veränderungen in der Zusammensetzung der Luft als Erste wahrnehmen. Doch es geht nicht nur um das Wahrnehmen, denn die Kanarienvögel könnten ihr Wissen auch für sich behalten. Es gilt auch, die Wahrnehmung auszudrücken. Was sich bei den Kanarienvögeln auf kurzem Wege zeigt – sie werden nervös und flattern herum–, reicht in der Kunst nicht aus.

Es ist nicht genug, Künstler in Kärnten auszusetzen und zu schauen, ob sie panisch oder apathisch werden. Vielmehr ist Kärnten selbst eine Art Kanarienvogel der Gattung Österreich, wenn die These stimmt, dass das, was passiert in Kärnten, fast immer eine Vorwegnahme dessen sei, was demnächst auch in anderen Bundesländern passieren wird. Das macht Kärnten zu einem privilegierten Ort für seismographische Studien über den Zustand und die Zusammensetzung der Luft im gegenwärtigen Österreichs.
Will man seismographische Studien durchführen, die weniger Selbstzweck, als vor allem überlebenswichtig sind, denn nicht jede Luft lässt uns auch leben, dann ist eine einfache und herkömmliche Art, zu schauen, was uns der Kanarienvogel sagt. Wir beobachten ihn genau und möglich, dass sein Gezwischter uns seine Stimmung, seine Seele verrät.

Gerhard Pilgram ist vom oberösterreichischen Festival der Regionen im Projekt »Österreich ist frei« beauftragt worden, ein ganzes Jahr lang, das letzte Jahr, Klimabeobachtungen durchzuführen. Als Untersuchungsgegenstand hat er die Leserbriefseiten diverser Tageszeitungen wie die Krone, die Kleine Zeitung, den Standard und Oberösterreichische Nachrichten gewählt, Stimmungsverdichtungen und Sprachrohr der Volksseele. Mit dieser Volksseele hat Gerhard Pilgram einen Dialog geführt. Wer hin und wieder selbst Leserbriefe liest, weiß, dass diese Arbeit nicht nur aufs Gemüt schlagen kann. Antisemitische Haltungen und an Wiederbetätigung grenzende Äußerungen durchbrechen immer häufiger das Hemmnis der Öffentlichkeit. Doch wie dialogisiert Gerhard Pilgram nun mit der Volksseele?
Alle vierzehn Tage antwortet er mit kleinen persönlichen Aktionen im privaten und öffentlichen Raum und dokumentiert diese dann photographisch. Oft verschwindet der Gegenstand der Rede, wird zurückgenommen, verzerrt oder ihm wird ausgewichen, wenn man die Mittel der Sprache zur Verfügung hat. Gerhard Pilgram antwortet den Briefen also hauptsächlich in der Sprache der Dinge, hält damit fest, was gesagt wurde und gibt zu erkennen, dass auch der einzelne Brief nicht verschwindet, unbedeutend ist, dass er Stimmung, Klima erzeugt und Antworten provoziert.

Die Leserbriefschreiber werden also ernst genommen. Ernst nehmen heißt aber auch, dass die Antwort sich bemüht, auf gleicher Ebene zu bleiben, sie ist keine Reflexion auf einer Metaebene, zu der der andere keinen Zugang hat, weil er sie nicht versteht oder eben schon reflektiert ist. Die Antworten auf die Briefe halten das Feld offen, sie sind Aktionen, keine hermetischen Objekte. Sie sind auch nicht frei von den Stimmungen des Beobachters, mal sind sie melancholisch, mal witzig, mal ironisch oder auch satirisch.
Die photographischen Dokumentationen auf der einen Seite, die archivierten, doch zugänglichen Leserbriefe und ihre Antworten auf der anderen Seite, aufgereiht gemäß des Versuchverlaufs öffnen somit mehrere Seiten der Interpretation. Sie können gelesen werden als einfache, kleine Bildgeschichten (die ja nie nur heimelig sind), als Fieberkurve der österreichischen Volksseele, als Stimmungs- und Luftzusammensetzung des Raumes, den auch wir produzieren, aber auch als Barometer für die kreative Leistungsfähigkeit eines einzelnen Kulturschaffenden.

Denn das durchzieht die Anstrengung: die Frage, die sich Gerhard Pilgram stellt, »wie man als Künstler, der mit seiner Arbeit so etwas wie ›soziale Relevanz‹ erreichen möchte, in Zeiten wie diesen der sogenannten Bevölkerung überhaupt noch begegnen kann. Denn die Gefahr, daß man das Interesse verliert an den Leuten, ist gar nicht so gering.«
Auch wir sind von Gerhard Pilgram eingeladen, uns auf diese Frage einzulassen. Sie sehen die Wahlkabine, und Sie haben die Wahl: Das Volk neu wählen?