Luftbilder. mai 1986

von Klaus Ratschiller

Die Fenster sind zu, das ist vielleicht ein Unterschied. Ansonsten die bekannten Gesichter und dieselbe Beengung wie überall in den letzten Tagen. Er grüßte etwas verlegen über die Köpfe hinweg und in das Verstummen hinein. Kaum jemand blickte auf, als er sich zwischen den zweien niederließ, die ihm betont zur Seite rückend Platz gemacht hatten. Sie, die bewegungslos und beinahe schon unter dem Tisch saß, einer Krähe gleich, wagte er nicht anzuschauen. Er war um Stunden zu spät und hatte sich keine Freundlichkeiten erwartet, dafür war zuviel passiert, dennoch nutzte er, um sich in Sicherheit zu bringen, die allgemeine Verstocktheit zu der feindseligen Erinnerung, wie wenig er es immer gemocht hatte, am Boden zu sitzen. Irgendwann musste er sich immer mit hinter sich ausgestreckten Armen abstützen oder seitlich liegend am Ellbogen aufstützen. Das Schweigen verschaffte ihm auch noch genug Zeit, um sich an das Muster des Spannteppichs zu erinnern, das sich in seine Hände oder auf den meist linken Unterarm eingedrückt hatte und das er dann, wenn er betrunken war, betrachtete, als wären es Zeichen, allerdings Zeichen gänzlich ohne Botschaft.
Er war wohl zu spät gekommen, um noch etwas von den Beratungen mitzubekommen. Wahrscheinlich waren aber alle nach einer anfänglichen Aufregung schnell ratlos geworden und hatten später Hinzukommenden mehr oder weniger verstummend Platz gemacht. Was sollte man auch fragen? Aufgeregtheit und Ratlosigkeit, so ging es allen. An der Tür hatte die, die das Treffen vorgeschlagen hatte, ihn mit einer, wie er fand, gleichermaßen übertriebenen wie flüchtigen und richtungslosen Bedürftigkeit umarmt. Er meinte den schlechten Film zu kennen, auch wenn er sich an keine Szene erinnerte. Was könnte auch anderes bleiben als Posen. Er nahm den Doppelliter in beide Hände, schenkte sich in das vergleichsweise viel zu kleine Glas ein und es kam ihm vor, als hätte sie im Flur kurz in sein Ohr geseufzt, und er wohl in ihres. Vielleicht, das wollte er nicht ausschließen, war die Übertreibung auch von ihm ausgegangen. In solchen Situationen ist nicht zu unterscheiden, was von wem ausgeht. Vielleicht ist es ja so, dass man selbst sofort ein Maß an Bedürftigkeit und Betroffenheit vorgibt, das den anderen davor schützt, sich als noch bedürftiger und betroffener, als geradezu erbärmlich zu erleben. Oder es ist der andere, der sich bedürftig gibt, weil man selbst so verloren in der Tür steht. Und so liegen sich dann die Verängstigten in den Armen, tappen im Dunklen nach einem Maß und horchen auf das Atmen des anderen, wenn nicht doch nur aufs eigene.
Er hätte gerne in die Runde gefragt, ob es allen mittlerweile so ginge, dass sie nichts mehr von diesen gemeinschaftlichen Gefühlen hielten, die sich notgedrungen so im Kreis am Boden sitzend einstellen müssten. Aber natürlich war der dritte Abend nach Tschernobyl der denkbar unpassendste Zeitpunkt für diese Anfrage. Zu spät kommen und gleich prinzipiell werden und schon wieder weg wollen, das ging nicht. Das sicher nicht. Er war zu spät gekommen, weil er sich zuvor mit anderen getroffen hatte, wo sich bald eine ähnliche Ratlosigkeit eingestellt hatte, wie er sie nun hier am Boden sitzend zu spüren vermutete. Ob man alle Vorhaben abbrechen sollte, ob es vertretbar sei, so weiter zu machen, als wäre nichts passiert. Was jetzt zu tun sei. Natürlich waren auch sie vorhin bei jedem Blick aus den Fenstern betreten in Schweigen verfallen. Man sieht nichts, spürt nichts, hört nichts, bilderloser Zerfall, und draußen ist schönes Wetter. Natürlich hatten auch sie nur über den Wetterbericht gesprochen, die Kindergärten und wie man es den Kindern erklären sollte und ob. Ob die Gummistiefel nicht lächerlich seien oder ob vielleicht doch nicht. Ob alle anderen auch ständig die Wäsche waschen. Und wenn, wann. Und wann, was. Immerhin waren sie dabei aber um einen Tisch gesessen, dachte er und kam sich schäbig vor.
Sollte er fragen, ob sie bisher dasselbe geredet hatten, ob jemand etwas anderes wisse als die anderen. Alle wissen dasselbe, mehr oder weniger nichts, dachte er, also schwieg er und dachte, wie alle, dachte er, an sein Kind. (…)

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