von Klaus
Ratschiller
Die Fenster sind zu, das ist vielleicht ein Unterschied. Ansonsten die
bekannten Gesichter und dieselbe Beengung wie überall in den letzten
Tagen. Er grüßte etwas verlegen über die Köpfe hinweg
und in das Verstummen hinein. Kaum jemand blickte auf, als er sich zwischen
den zweien niederließ, die ihm betont zur Seite rückend Platz
gemacht hatten. Sie, die bewegungslos und beinahe schon unter dem Tisch
saß, einer Krähe gleich, wagte er nicht anzuschauen. Er war
um Stunden zu spät und hatte sich keine Freundlichkeiten erwartet,
dafür war zuviel passiert, dennoch nutzte er, um sich in Sicherheit
zu bringen, die allgemeine Verstocktheit zu der feindseligen Erinnerung,
wie wenig er es immer gemocht hatte, am Boden zu sitzen. Irgendwann musste
er sich immer mit hinter sich ausgestreckten Armen abstützen oder
seitlich liegend am Ellbogen aufstützen. Das Schweigen verschaffte
ihm auch noch genug Zeit, um sich an das Muster des Spannteppichs zu erinnern,
das sich in seine Hände oder auf den meist linken Unterarm eingedrückt
hatte und das er dann, wenn er betrunken war, betrachtete, als wären
es Zeichen, allerdings Zeichen gänzlich ohne Botschaft.
Er war wohl zu spät gekommen, um noch etwas von den Beratungen mitzubekommen.
Wahrscheinlich waren aber alle nach einer anfänglichen Aufregung
schnell ratlos geworden und hatten später Hinzukommenden mehr oder
weniger verstummend Platz gemacht. Was sollte man auch fragen? Aufgeregtheit
und Ratlosigkeit, so ging es allen. An der Tür hatte die, die das
Treffen vorgeschlagen hatte, ihn mit einer, wie er fand, gleichermaßen
übertriebenen wie flüchtigen und richtungslosen Bedürftigkeit
umarmt. Er meinte den schlechten Film zu kennen, auch wenn er sich an
keine Szene erinnerte. Was könnte auch anderes bleiben als Posen.
Er nahm den Doppelliter in beide Hände, schenkte sich in das vergleichsweise
viel zu kleine Glas ein und es kam ihm vor, als hätte sie im Flur
kurz in sein Ohr geseufzt, und er wohl in ihres. Vielleicht, das wollte
er nicht ausschließen, war die Übertreibung auch von ihm ausgegangen.
In solchen Situationen ist nicht zu unterscheiden, was von wem ausgeht.
Vielleicht ist es ja so, dass man selbst sofort ein Maß an Bedürftigkeit
und Betroffenheit vorgibt, das den anderen davor schützt, sich als
noch bedürftiger und betroffener, als geradezu erbärmlich zu
erleben. Oder es ist der andere, der sich bedürftig gibt, weil man
selbst so verloren in der Tür steht. Und so liegen sich dann die
Verängstigten in den Armen, tappen im Dunklen nach einem Maß
und horchen auf das Atmen des anderen, wenn nicht doch nur aufs eigene.
Er hätte gerne in die Runde gefragt, ob es allen mittlerweile so
ginge, dass sie nichts mehr von diesen gemeinschaftlichen Gefühlen
hielten, die sich notgedrungen so im Kreis am Boden sitzend einstellen
müssten. Aber natürlich war der dritte Abend nach Tschernobyl
der denkbar unpassendste Zeitpunkt für diese Anfrage. Zu spät
kommen und gleich prinzipiell werden und schon wieder weg wollen, das
ging nicht. Das sicher nicht. Er war zu spät gekommen, weil er sich
zuvor mit anderen getroffen hatte, wo sich bald eine ähnliche Ratlosigkeit
eingestellt hatte, wie er sie nun hier am Boden sitzend zu spüren
vermutete. Ob man alle Vorhaben abbrechen sollte, ob es vertretbar sei,
so weiter zu machen, als wäre nichts passiert. Was jetzt zu tun sei.
Natürlich waren auch sie vorhin bei jedem Blick aus den Fenstern
betreten in Schweigen verfallen. Man sieht nichts, spürt nichts,
hört nichts, bilderloser Zerfall, und draußen ist schönes
Wetter. Natürlich hatten auch sie nur über den Wetterbericht
gesprochen, die Kindergärten und wie man es den Kindern erklären
sollte und ob. Ob die Gummistiefel nicht lächerlich seien oder ob
vielleicht doch nicht. Ob alle anderen auch ständig die Wäsche
waschen. Und wenn, wann. Und wann, was. Immerhin waren sie dabei aber
um einen Tisch gesessen, dachte er und kam sich schäbig vor.
Sollte er fragen, ob sie bisher dasselbe geredet hatten, ob jemand etwas
anderes wisse als die anderen. Alle wissen dasselbe, mehr oder weniger
nichts, dachte er, also schwieg er und dachte, wie alle, dachte er, an
sein Kind. (…)
[Der gesamte Text nur in der Druckausgabe!]
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