Wilhelm Berger | Brief aus der Melancholie  
 
Vorbemerkung
Das folgende Manuskript wurde im Rettungsboot »Melancholie«, und zwar in einer Tupperwaredose gefunden, in die es wohl in aller Eile gesteckt worden sein muss. Es wurde eruiert, dass selbige Tupperwaredose aus der Kombüse des Schiffskochs Puch entwendet worden war. Da die Tupperwaredose einige gefüllte Eier – nach Puchs Rezept – enthalten hatte, die der Dieb der Dose verspeist haben muss, ohne die Tupperwaredose danach zu reinigen, weist der Text viele Fettflecken auf, die eine vollständige Entzifferung erschweren. Sie sind hier mit (…) gekennzeichnet.
Beim Autor handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Universitätslehrer namens Berger. Er muss einige Zeit lang als blinder Passagier unerkannt an Bord der »Morgenröte | Zora« gelebt haben und ist irgendwie verschwunden. Er könnte allerdings die Gestalt gewesen sein, die eines Morgens vom Krähennest aus am Eis gesichtet worden ist und offensichtlich dem in weiter Ferne rauchenden Schlot des Klagenfurter Fernheizkraftwerks zustrebte.
Obwohl der Text grobe Unwahrheiten bezüglich der Zustände an Bord, ja auch Invektiven gegen das hohe Rektorat der Universität Klagenfurt enthält, von denen wir uns ausdrücklich distanzieren, hat sich die Schiffs– und Expeditionsleitung entschlossen, ihn zu veröffentlichen. Dies vor allem aus dem Grunde, dass die vielleicht etwas langatmigen und wissenschaftlich eitlen Ausführungen über das Thema »Melancholie« im zweiten Teil, also über eine Stimmung, die das gesamte Schiff immer mehr befällt und zur Bedrohung der gesamten Expedition zu werden droht, nicht ganz unklug zu sein scheinen. Der Titel wurde von der Schiffs- und Expeditionsleitung eingefügt.

Manuskript
Geliebte,
(…) nun hast Du eine Ewigkeit nichts von mir gehört. Hoffentlich findet eine milde Seele diesen Brief und er wird Dir zugeleitet! Ich bin jetzt als blinder Passagier an Bord des Schiffes »Morgenröte«, ich lebe jedenfalls noch, aber wie ich hierher gelangt bin, weiß ich nicht mehr ganz genau. (…) Ich muss mit dem Kopf irgendwo aufgeschlagen sein. Offensichtlich leide ich an Amnesie, aber nicht an einer retrograden, sondern einer kongraden Amnesie, bei der nur ein bestimmtes konkretes Ereignis im Nebel des Vergessens versinkt, denn ich kann, wie noch zu sehen sein wird, nach wie vor ganze Buchpassagen aus dem Gedächtnis zitieren.
Dunkel erinnere ich mich, dass ich an der Universität, verbotener Weise, weil diese war schon oder noch immer abgesperrt und ich war keine sogenannte Schlüsselkraft, mit dem Kopieren eines Manuskripts beschäftigt war, als der Rektor mit den drei Vizerektoren beziehungsweise Vizerektorinnen um die Ecke gekommen ist. Sie wollten geschäftig vorbeieilen und grüßten mich eigentlich ganz freundlich. Aber mich überkam angesichts ihrer, wie soll ich sagen, verantwortungsträgerhaften Erscheinung plötzlich ein Gefühl, das schon Aristoteles »ein Kochen, ein Aufwallen des Blutes und der Wärme am Herzen«, genannt hat, kurz: ein unbeherrschbarer Zorn. Auf Grund der langen Selbstisolation müssen meine Nerven blankgelegen haben.
Ich kann mich dunkel erinnern, dass ich fast wie ein Wutbürger zu zetern begann. Selbst die wenigen Wortfetzen, die der kongraden Amnesie widerstanden haben, sind mir jetzt noch peinlich: übersteigerte Anpassung (…) selbst der Intendant des Theaters in der Josefstadt kämpfe für die baldige Wiedereröffnung seiner Bühne (…) Stilllegung der wichtigsten wissenschaftlichen Produktivkraft, der Kooperation und persönlichen Kommunikation (…) elende Lehre im Netz (…) Verprovinzialisierung (…) Verkonventionalisierung (…) Drohnenforschung, Droooohnenforschung schrie ich (…), dann ein Blackout, und ich sah mich in Richtung Lendkanal davonrennen, die kopierten Manuskripte unter dem Arm und das Rektorat als Verfolger hinter mir, der Rektor hatte inzwischen einen Prügel in der Hand (…) da erblickte ich das Schiff »Morgenröte«, das am Kanal majestätisch vorbeizog.
Die Manuskripte unters Hemd geschoben, ein Sprung und ich hing an der Planke hinter dem Ruderstand. Aus den Augenwinkeln sah ich noch, wie der Vizerektor für Personal und die Vizerektorin für Forschung nicht mehr bremsen konnten und in den Lendkanal stürzten. Der Strasser am Steuerrad und die Izmaylova waren so sehr damit beschäftigt, zu posieren und dem Volk zuzuwinken, dass sie nicht einmal den Prügel bemerkten, den der Rektor gegen das Schiff schleuderte. So konnte ich mich unter die ebenso euphorischen Matrosen mischen. Diese Izmaylova ist übrigens nicht so harmlos wie sie aussieht! Mit ihrem Stellvertreter Strasser hat sie, wie ich später beobachten musste, ein strenges Regime an Bord errichtet. Noch schlimmer ein Kerl namens Pilgram, der von seinen Expeditionen, wer weiß woher, immer Eisbärenschnaps mitbringt, der bei wüsten Gelagen, man muss es so sagen, weggesoffen wird.
Kaum war das Klagenfurter Ufer außer Sichtweite, mussten wir uns zum Apell aufstellen. Ein Mann namens Puch, durch seine von Essensresten besudelte Schürze als Koch erkennbar, kam aus der Kombüse und begann uns durchzuzählen, wahrscheinlich um die Zahl der Portionen für das Abendessen auszurechnen. Er murmelte vor sich hin und begann noch mal, schließlich schrie er hoch zur Izmaylova: »Einer zu viel!« Bevor er mit dem abermaligen Zählen fertig war, hatte ich mich mit einem Sprung ins Rettungsboot gerettet. Unter der Plane versuchte ich, wieder zu Atem zu kommen.
Ich muss dann ein wenig eingedöst sein, immerhin hatte ich ja schon einiges hinter mir und bin auch nicht mehr der Jüngste. Eine laute, panische Stimme schreckte mich auf, die immerfort schrie: »Herr und Frau und Dame Herr erbarmet uns Ihnen«. Vorsichtig hob ich die Plane und erblickte einen in flatternder Soutane vorbeirennenden Geistlichen, der vom Strasser vor sich hin gejagt wurde. Später erlauschte ich, dass er wohl der Izmaylova schöne Augen gemacht oder ihr eines der Gedichte zugesteckt hatte, die er in seiner tief im Bauch der Morgenröte verborgenen Schiffskapelle zu produzieren schien. Wenigstens noch ein zweiter Mann des Wortes an Bord!
Aber das Erlebnis bestärkte meine Absicht, vorsichtshalber noch im Rettungsboot zu bleiben. Ich bin ohnehin an homeoffice gewöhnt und mein Büro an der Universität, ein schlauchartiger Raum im sogenannten lakesidepark, ist auch nicht viel heller als das Innere des Bootes. Am Abend versammelte sich die Mannschaft in der Messe und begann, eine vom Puch gesottene Seekuh zu verspeisen. Durch die offene Luke konnte ich vom Boot aus zusehen. Da bekam ich auch Appetit. Ich hob die Plane, ließ mich vorsichtig auf das Deck fallen und schlich zur Kombüse. Die Matrosen in der Messe waren ohnehin schon vom Pilgramschen Eisbärenschnaps angetrunken und unterhielten sich laut. Als ich einen Topf Brennnesselsuppe, den ich vom Herd genommen hatte, vorsichtig an der Seite des Rettungsbootes hochstemmte, fiel mir zum ersten Mal der Name des Bootes ins Auge: »Melancholie« stand da angeschrieben. Ich aß die ausgezeichnete Suppe. Aus der Messe ertönten nun schöne Klänge. Saxophon, Bass, eine tiefe Gesangsstimme. Die Stimme meines alten Freundes Dietmar. Da überkam mich tiefe Schwermut. Welche Ironie: In Selbstisolation traurig in einem Boot namens Melancholie! Und mit den Autoritäten der Universität rettungslos überworfen!
In der Messe weinten inzwischen auch die Künstlermatrosen und Künstlermatrosinnen. Es ist nicht leicht eingefroren im Eis! Am nächsten Abend das gleiche Bild: die Leute aßen, sangen und weinten dann bitterlich. An der Küche kann das nicht gelegen haben. Übrigens habe ich den Briefen, die eine von mir abgefangene Brieftaube transportierte – der Schiffspfarrer scheint in diesen Brieftaubenverkehr involviert zu sein – entnommen, dass der Vizerektor für Personal und die Vizerektorin für Forschung zurückgetreten sind. Hoffentlich nicht auf Grund ihres Sturzes in den Lendkanal.
Der Wunsch, mich zu erkennen zu geben, wurde immer größer. Wie gern würde ich am Tisch in der Messe sitzen, mitsingen, mittrinken. Auf der anderen Seite hatte ich gesehen, wie mit dem Schiffsgeistlichen verfahren worden war. Und ich, als Wissenschaftler, hatte ja gar keine Mitfahrberechtigung unter all diesen Künstlern. Vermutlich würden die Izmaylova und der Strasser mich kielholen lassen. Es sei denn (…) ich könnte meine Nützlichkeit beweisen. Aber wie nur? (…) Immer hatte ich den Studierenden eingeschärft, die eigene Situation zum Anfang ihres Philosophierens zu machen. Wenn ich imstande wäre, meinen selbstverkündeten Lehren zu folgen, könnte ich meine Isolation in der »Melancholie« zum Ausgangspunkt nehmen.
Ich stellte mir vor, während des Abendessens in der Messe die Plane des Rettungsboots zu lüften und eine Rede an dort weinenden Künstlermatrosen und Künstlermatrosinnen zu halten, als Ermahnung und Trost, und darin ihre Melancholie zur eigentlichen Rettung erklären, und den Namen des Rettungsbootes gleich mit. Dann würden sie mich freudig in ihren Kreis aufnehmen. Ich schlich in die Kombüse, versah mich mit weiterer Brennnesselsuppe und etwas Eisbärenschnaps und machte mich ans Werk. Gott sei Dank hatte ich an der Universität – wie lang ist das schon her – nur einseitig kopiert und damit genug Schreibpapier bei der Hand sowie einen abgekauten kleinen Bleistift in meiner Hosentasche gefunden. Ich schrieb also:

Vortrag
Künstlerinnen und Künstler! Es ist kein Wunder, dass Ihr der Melancholie verfallen seid! (…) Denn schon ein Schüler des antiken Philosophen Aristoteles namens Theophrast soll geschrieben haben (ich zitiere aus dem Gedächtnis): (…) „Warum sind alle hervorragenden Männer, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler, offenbar Melancholiker gewesen? Und zwar einige in solchem Maße (…), dass sie sogar unter den von der schwarzen Galle verursachten krankhaften Anfällen litten, wie in der Heroensage von Herakles berichtet wird.“ (…)
Wir sehen hier die tiefe Ambiguität des Begriffs Melancholie. Schon der Arzt Hippokrates spricht von Melancholie als Krankheit, Theophrast aber bezeichnet sie zugleich als Temperament der Künstler und Poeten, und er weist auf die innere Ambiguität dieser Stimmung hin: der größte Heros, Herakles, ist zugleich eine schwache, ausgelieferte Person. Walter Benjamin wendet diese Einsicht auf die Allegorie als Form des künstlerischen Ausdrucks an, wenn er das Barock als großes Zeitalter der Melancholie analysiert: Die Allegorie ist Darstellung der Ambiguität von Großartigkeit und Vergeblichkeit, von Aktivität und Furcht, von Manie und Depression. Nachzulesen in seinem Buch Ursprung des deutschen Trauerspiels.
Was hat das mit Euch Künstlerinnen und Künstlern zu tun? Auch Ihr schwankt zwischen Selbstüberschätzung und Selbstzweifeln. Und denkt nur an den berühmten Stich von Albrecht Dürer, »Melancholia eins«, ich glaube von 1514, auf dem eine grübelnde Figur zu sehen ist, Blick ins Leere, umgeben von vielen Dingen, Schreibzeug, Tintenfass, ein schlafender Hund, das Tier der Melancholiker, Gelehrten und Künstler, Sonnenuhr und Stundenglas, durch das der Sand schon zur Hälfte durchgerieselt ist (…): Vanitas, Vergeblichkeit! Aber auf der anderen Seite: die schwere Figur hat Flügel!
Wie heute wir auf diesem Schiff, lebte damals die Melancholie in den Palästen. Dies, wie wir wissen, in zweierlei Form, nämlich als persönliche Erfahrung, die oft im Suizid enden konnte, und zugleich als Herrschaftstechnik, was auch die Augen öffnet bezüglich der Verhältnisse auf diesem Schiff!
Beispiele für den ersten Aspekt sind Schicksale von Aristokraten, über die Florian Kühnel in seinem Buch Kranke Ehre? Adlige Selbsttötung im Übergang zur Moderne, erschienen ungefähr 2013, berichtet. Selbst der Suizid aus gekränktem Ehrgefühl war übrigens nicht ganz einfach, denn Selbstmörder wurden ja vor der Friedhofsmauer beerdigt und ein großer Teil ihres Vermögens fiel an den Souverän. Ein Umgehungstrick war, ein unschuldiges Kind zu ermorden und sich sogleich den Autoritäten zu stellen. So sorgte schließlich der Henker für die Tötung dessen, der aus dem Leben gehen wollte, gewisser Maßen mit vollem Service, eingeschlossen die priesterliche Begleitung zur Hinrichtung. Der Mörder konnte zuvor beichten und bereuen, und das unschuldige Kind kam sowieso in den Himmel. Win – win würde man heute sagen. Ein anderes Mittel war ein ärztliches Gutachten, dass der Selbstmörder krank in seinem Geiste gewesen sei. Diese Gutachten könnten als die ersten psychologischen, sozusagen protopsychologischen, Gutachten interpretiert werden, von denen heute die Zunft der Psychologen lebt.
Aber ich schweife ab! Ein erstes Beispiel für den zweiten Aspekt ist Friedrich II, König von Preußen, wenn ich mich richtig erinnere, wurde er 1712 geboren. Dieser als Kronprinz von seinem Vater grausam gequälte Mann, wohl homosexuell und verliebt in seinen Freund Hans Hermann von Katte, mit dem gemeinsam er der Tyrannei seines Vaters hatte entfliehen wollen, musste die Hinrichtung seines Freundes persönlich mitansehen. Später, in seinen Konversationen und Tagebüchern, sprach er häufig von der Möglichkeit seiner Selbsttötung. Er soll stets Gift in seinen Taschen mitgetragen haben. Eine wirklich theatralische Performance, denn das Gift war längst von seinen Dienern hinter seinem Rücken durch ein harmloses Mittel ausgetauscht worden.
Die Obsessionen von Friedrich II weisen auf zwei Vorbilder hin, die zu dieser Zeit wichtig waren, Marcus Porcius Cato dem Jüngeren und Marcus Salvius Otho. Cato war ein römischer Politiker, der 95 bis 46 vor Christus gelebt hat, ein Opponent von Caesar. Nach einer verlorenen Auseinandersetzung wollte er nicht von Caesar abhängig werden und tötete sich selbst. Diese Selbsttötung hatte einen enormen Einfluss auf die Kultur- und Kunstgeschichte von Seneca bis Robespierre. Antonio Vivaldi vertonte Catone in Utica, Georg Friedrich Händel schrieb ein Pasticcio namens Catone. Otho dagegen war ein römischer Kurzzeitkaiser in der Periode, die auf Nero folgte. Nach drei Monaten Kaiserschaft tötete er sich selbst in einer vielleicht hoffnungslosen, aber doch offenen Situation, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden. »Wer könnte größer im Tode sein als Otho?« hat der Poet Martialis in einem Epigramm geschrieben.
Aber das sind bloß Geschichten zum Aufwärmen, liebe Künstlerinnen und Künstler der Morgenröte. Worauf ich eigentlich hinauswill, ist die Frage: In welcher Weise wird Melancholie auf einer institutionellen und politischen Ebene, also auch auf diesem Schiff, bedeutsam? Dazu haben die Soziologen Norbert Elias in seinem Buch Die höfische Gesellschaft, ich glaube 1969, und Wolf Lepenies in seinem Buch Melancholie und Gesellschaft, ich glaube 1972, einiges Bedenkenswertes geschrieben.
Beide rekonstruieren das Alltagsleben am Hof Ludwig des XIV in Versailles, und zwar als Organisation und Orchestrierung von Ambiguitäten. Das größte politische Problem von Ludwig war die Macht des französischen Hochadels, die sich bei verschiedenen Aufständen bewiesen hatte. Also zwang er alle in seine Nähe, auf den Hof, und etablierte dort ein komplexes Machtsystem, das Elias »Königsmechanismus« nennt. Er spielte die verschiedenen Interessen der Adeligen gegeneinander aus und etablierte sich selbst als »decision maker«, wie man heute sagen würde. Elias unterschiedet zwei Systeme: die reale Macht des Königs und eine »Realität zweiter Ordnung«. Dort verteilt der König symbolische Gunst. So wird reale Macht in letztlich machtloses Verhalten transformiert. Hier sind Nähe und Distanz zum König wichtig, zum Beispiel die Frage, wer dem sogenannten »levé«, als der der König sein Bett verlies, beiwohnen kann und an wen er sein Wort richtet.
Diese »Realität zweiter Ordnung«, ihre Folgenlosigkeit und Langeweile, ist nun die Sphäre der Melancholie. Vor meiner Flucht hatte ich gerade einen Bericht über die Herzogin von Longueville kopiert, ich zitiere daher wörtlich: »Mein Gott, Madame, sagte eine ihrer Gesellschafterinnen, die Langeweile nagt an Ihnen; möchten sie sich nicht amüsieren? Es gibt hier schöne Wälder und auch Hunde, möchten Sie zur Jagd gehen? – Ich liebe die Jagd nicht. – Möchten Sie etwas arbeiten? – Ich liebe die Arbeit nicht, - Möchten Sie spazieren gehen? – Ich mag keine Spaziergänge. – Möchten Sie etwas spielen? – Das Spiel liebe ich schon gar nicht. – Was möchten Sie denn tun, um sich abzulenken? – Herrjeh, was soll ich Ihnen denn sagen. Ich liebe die unschuldigen Vergnügen nicht.«
Man möchte fast meinen, die Herzogin stünde in Selbstisolation wie wir zu Zeiten der Corona – Krise. Geht es den Künstlerinnen und Künstlern, die folgenlos und einflusslos im Packeis vor sich hin spielen, nicht genauso? Ist es dieser Mechanismus, der uns so melancholisch macht? Dabei sollten wir doch auf diese selber immer melancholischer werdende Gesellschaft einwirken! Hinaus aus dem Eis!
Einer der größten Theoretiker der Melancholie, der ungefähr 1621 sein großes Werk Anatomie der Melancholie geschrieben hat, sah es auch schon ähnlich. Er hieß Robert Burton und war ein richtiger Bücherwurm, der über tausend Werke anderer Autoren in seiner Anatomie zitiert hat. Er schreibt (ich zitiere aus dem Gedächtnis): »Königreiche, Provinzen und politische Institutionen sind für diese Krankheit ebenso empfänglich und ihr ausgesetzt (…) Wie im menschlichen Körper die falsche Mischung der Säfte verschiedene krankhafte Veränderungen auslösen kann (…) entstehen auch in einem Gemeinwesen pathologische Ungleichgewichtszustände, die man an ihren Symptomen leicht erkennen kann (…) allgemeine Missstände, Armut, Barbarei, Bettlertum, Plagen, Kriege, Rebellionen, Aufruhr, Meuterei, Zwietracht, Müßiggang, Ausschweifungen, Genusssucht (…) wo die Menschen verwahrlost, schmutzig und sittenlos leben, da herrschen notwendig Missmut und Melancholie…«
Burton kennt keinen anderen Ausweg als die richtige Mischung von Säften und bezieht sich dabei auf die antike Lehre, dass Krankheiten auf das aus dem Lot gerate Verhältnis von vier Körpersäften zurückgingen, gelbe Galle, Blut, Schleim und schwarze Galle, deren Vorherrschen Melancholie bedinge. Saft heißt im Griechischen und Lateinischen humor, von daher der Begriff »black humour« im Englischen, »a humorous way of looking at or treating something that is serious or sad«. Ist das ein Ausweg?
Es muss im Jahre 1514 gewesen sein, als der König Emanuel von Portugal Papst Leo X, einem Mann, der, wie man weiß, zwischen Depression und Manie schwankte, ein lebendes Geschenk übersandte: den Elefanten Annone. Nach einer langen Schiffsreise kam Annone in Begleitung von 70 Personen in Rom an. So viel neugieriges Volk eilte der Delegation entgegen, dass die große Menge die Mauern einer Villa vor Rom zerstörte, in der sich die portugiesische Delegation einquartiert hatte. Schließlich zog Annone in einer großartigen Prozession in Rom ein. Ein diesbezügliches Gedicht des Poeten Pasquale Malaspina habe ich noch in Erinnerung: »(…) prima del grande Pastore / Venne condotto l´addestrato elefante / che danzava con tanta grazia e tanto amore / che difficilmente un uomo avrebbe potuto ballare meglio«, das heißt in etwa: »vor dem großen Hirten wurde der dressierte Elefant geführt, der tanzte mit solcher Grazie und solcher Liebe, dass schwerlich ein Mensch hätte besser tanzen können.«
Die Kunst ist der Ausweg, liebe Künstlerinnen und Künstler, der Festzug der Tiere, das nächste Projekt! Es lässt sich leider nicht nachweisen, dass die wundervolle Elefantenskulptur von Bernini auf der Piazza della Minerva in Rom den Annone zum Vorbild hatte. Leo X ist aber immerhin in der Kirche Santa Maria sopra Minerva begraben, und der Protagonist Murnau in Die Auslöschung von Thomas Bernhard, dem größten österreichischen Melancholiker und wohl auch Humoristen, hatte im Roman ebendort seinen Wohnsitz. Aber das ist eine andere Geschichte.

Nachbemerkung
Das ist der Vortrag, den ich vor den Künstlerinnen und Künstler halten will, beziehungsweise, wie ich jetzt schreiben muss, halten wollte. Nachdem ich wie im Fieber die ganze Nacht durchgeschrieben hatte, wurde ich am frühen Morgen durch einen Tumult aufgeschreckt. In der Messe schien eine Art Gerichtsverhandlung stattzufinden. Ausgerechnet der Koch, dessen Brennnesselsuppe mir in der letzten Zeit so sehr gemundet hatte, war offensichtlich der Angeklagte. Er schien sich für einige fehlende Liter Brennnesselsuppe verantworten zu müssen. Jetzt fliege ich gleich selber auf und komme vor Gericht, dachte ich. Da sah ich ein: Es hat keinen Sinn, sich als blinder Passagier zu outen. Ich werde jetzt dieses Manuskript in eine Tupperwaredose stecken und mich über das Eis auf den Weg machen.