Mladen Savić | »Morgenröte« im Nirgendwo  
 
Gräulich-schwarz dampft es aus dem weiß-roten Schlot, und der eiserne Kahn fährt, wenn es sein muss, so lange, bis der letzte Flottenforz an Deck keinen Ruß mehr wegzuschrubben und der Kohleschaufler im Bug nur noch die Holzmöbel an Bord zu verheizen hat. Bis alles verbraucht ist. Dazu ist es, zum Glück oder zum Teufel noch einmal, nie gekommen. Das Packeis hat unsere Reise zum Erliegen gebracht, stattdessen. Aus Abbringen wird wohl nichts, wir stecken alle fest. Die Natur, habe ich mir kurz nach dem Unglück gedacht, setzt Grenzen und wir, na ja … wir können sie überschreiten.
Die Kapitänin sei ein kluger Kopf, heißt es hin und wieder, eine, die sicherlich eine Lösung finden würde. Manche munkeln, dass sie schon eine Schlittenexpedition zu unserer Rettung plane. Ob es stimmt, weiß ich nicht. Ein Köter ist heute eingegangen. Jetzt hätten wir wenigstens ein bisschen mehr Zeit, ist ein anderer Gedanke gewesen, der mich anfangs beschäftigt hat – bis ich begriffen habe, dass uns die Beschäftigungen nicht ausgehen werden, sondern eher die Rationen. Das Eis ringsum und in jede Richtung ist eine sehr unbarmherzige, unnachgiebige Grenze. Nun kühlen wir aus, als Dampfer und als Einzelne. Das ist Kultur, sag‘ ich nur.
Gestern erst hat der Smutje, der schließlich an der Quelle sitzt, sich von seiner Freundin getrennt, weil sie zwar gut und gerne an ihm turnt, wie er selber sagt, aber zu viel isst. Bei Interessen, besonders bei einseitigen wie den seinen, ergibt sich wie von selbst diese Abdrift der Gefühle, und dann geht alles immer ganz schnell. Ob es sich da überhaupt um Gefühle handelt, weiß ich auch nicht. Die meiste Zeit verbringt der Kerl mit Zwiebeln, Kartoffeln und Karotten sowie mit Messern, Pfannen und Töpfen. Ich bin besser dran, ehrlich gesagt, denn ich teile, wenn ich denn teile, und suche nicht nach Gründen, um es nicht zu tun.
Der Schiffsarzt hat mir, als wir einmal über das Kantinenessen gelästert haben, erzählt, dass der Koch auf der einen Seite ängstlich sei und sich ständig Krankheiten einbilde und auf der anderen Seite von mutigen, großen Männern der Geschichte schwärme: von Feldherren, Fürsten und so etwas. Wie dem auch sei, mir persönlich ist das egal, abgesehen davon, dass es mir völlig einleuchtend vorkommt. Erstens kenne ich all diese Leute gar nicht, für mich sind es nur Namen. Zweitens sind sie längst tot und gehen mich auch sonst nichts an.
Jedenfalls würde ich mit dem Schiffskoch und seiner Situation nicht tauschen wollen. Ständig an einen Raum gebunden zu sein, klingt krude und anstrengend. Doch damit nicht genug. Wer, wenn nicht er, wüsste besser Bescheid, wie wenig Dosenbrot, Marmelade, Tabak und Rum insgesamt noch übrig sind. Täglich stirbt er häppchenweise: wieder ein Tag näher am Tod, nur mehr so und so viele Tage vor dem Hungern … Womöglich ist die Angst größer als die Liebe oder die Seele einfach kleiner. Es macht auch keinen Unterschied, nicht für die anderen und nicht für die Welt.
Wenn Überleben eine Kunst ist, dann habe ich sie auf meine Art gelernt. Klar denken muss man können. Rasch richtig urteilen. Bevor es falsche Gefühle sind, zum Beispiel, habe ich lieber keine. Zuweilen zehren sie einen aus. Das Einzige, das ich im Augenblick fühle, ist Grauen bei null Knoten voraus. Seit einer Woche zieht ein Schneesturm über uns hinweg. Der Wind krächzt sein klirrend kaltes Lied und weht und weht – und deckt uns mit Schneemassen zu. Trotzdem lebt das Schiff weiter. In den Logis brennt häufig Licht. Alle gehen ihren Arbeiten nach, reparieren Bilderrahmen, Türschlösser und Uhren, nähen ihre Sockenlöcher zu und spielen Karten miteinander. Derweil wird das Toilettenpapier weniger. Wie kultiviert das Ende aussieht, werden wir ja sehen.
Zwar sagt man Kleiner oder Moses zu mir, weil ich hier Deckjunge bin, aber ich heiße zufällig so. Seinen Namen sucht man sich in der Regel nicht aus, und meiner hat mich das Meer auch nicht teilen und niemanden durch die Wüste führen lassen, sondern mich zum Schiff und zur Seefahrt verschlagen, wo es das Gesetz gewissermaßen gibt und gleichzeitig nicht gibt. Mein Vater, der alte Nichtsnutz, hat aus Dankbarkeit diesen Namen ausgewählt, nachdem ein jüdischer Arzt mich entbunden haben soll. »Du warst für deine Mutter eine schwere Geburt und hättest sie fast umgebracht!«, hat er gelegentlich gesagt. – »Ich?«, habe ich mir jedes Mal prompt gedacht: »Mich hat’s doch noch gar nicht so richtig gegeben ...« Mein alter Herr hat ohnehin nie etwas sonderlich Wertvolles von sich gegeben. Als er mich unvorbereitet in die Gesellschaft entlassen hat, sind wunderliche Weisheiten aus seinem Mund gequollen. »Sohnemann!«, hat er gesagt: »Wenn du in die Welt hinausgehst, sieh nicht in den Himmel. Da ist nichts. Und sieh nicht jedem in die Augen. Du könntest an den Falschen geraten. Am Ende bringt er dich noch um. Schau lieber auf den Boden. Unter Umständen findest du hin und wieder eine Münze ...«
Wie dem auch sei, ich, Moses der Kleine, bin zu guter Letzt auf der Seemannsschule gelandet. Überall sonst bin ich in hohem Bogen hinausgeflogen – und von so manchem Arbeitsplatz ebenso. Unterordnung fällt mir schwer, vor allem, wenn irgendein Unsinn von mir gefordert wird, aber das ist eine andere Geschichte. Ausbildung habe ich keine gehabt. Meine Eltern baden nicht in Vogelmilch und scheißen kein Geld. Also ist mir nicht viel anderes übriggeblieben, als wie wild zu wurachen, Teller zu waschen, Böden zu schrubben und schwere Säcke zu tragen. Dreizehn Wochen nur habe ich in der Seemannsschule durchhalten müssen, um endlich etwas in der Hand zu haben! Das ist für mich eine lange Zeit gewesen. Wenn schon schuften wie ein Kuli, habe ich mir gesagt, dann will ich wenigstens die Welt sehen und nicht jeden verdammten Morgen an ein und denselben Platz zu pilgern haben. Dieser Reiz ist keiner, und es wäre mir einfach zu öde.
Beim ersten Mal habe ich ohne Schein anheuern wollen, aber es hat nicht geklappt. In diesen Landen muss alles seine Ordnung haben, wie man so schön sagt. Von wegen! Wenn man alles immer ordentlich erledigt, nach bestem Wissen und Gewissen, wenn man folgt wie verlangt, wenn man brav bleibt sozusagen, geht es einem auch nicht besser, denn echtes Mitleid ist im Leben rare Ware. Eines Tages ist meine Entscheidung gefallen, Matrose zu werden. Den Nachmittag damals werde ich nie vergessen. Ich habe zu dem Zeitpunkt in einem feucht-modrigen Lager gearbeitet und in staubiger Luft und mieser Laune ununterbrochen Kisten geschleppt und geschlichtet. Der Vorarbeiter hat mich gehasst seit meiner Frage, ob man uns Handschuhe geben würde – ohne ein paar Blasen und eingezogene Schiefer nämlich ist man auf keinen Fall in seine Stube oder später in die Kneipe gegangen.
Vom ersten Stock des Gebäudes aus, wo in feiner Kluft die Gelernten sitzen, die einen täglich ausbezahlen und um eine halbe Stunde da und eine Stunde dort um den Lohn prellen, von dieser Höhe aus habe ich die weite See gesehen. Das Fenster ist offen gestanden, und der Meeresgeruch ist just in meine Nase gezogen, als eine Möwe sich auf den Sims setzt und böse blickt. Der Angestellte hinter dem Tisch voller Zettel springt jäh und jäher auf, als müsste er sofort etwas Wichtiges tun, sperrt die Kasse kurzerhand zu und verscheucht Hände fuchtelnd den neugierigen Vogel. Die Szene hat einen lächerlichen Eindruck gemacht. Derweil bin ich im Raum gestanden wie am falschen Ort und habe mich an selige Spaziergänge am Hafen zurückerinnert, zu denen mich mein Onkel gelegentlich mitgenommen hat in meiner Kindheit.
Einmal hat er mich gebeten, meine Hand ins Wasser zu tauchen, und mich gefragt, ob ich etwas „spüren“ würde. Was hätte ich schon spüren sollen? Lächelnd hat er gemeint, jetzt sei ich mit der ganzen Welt verbunden. »Sag', Onkel, was ist da draußen am Meer?«, habe ich nachgefragt, um mir nicht allzu dumm vorzukommen. »Nichts«, hat er geantwortet: »oder die große, weite Welt, je nachdem.« Er ist ein guter Mann gewesen, ein bisschen verschroben, aber gut und aus meiner Sicht weise. Der Horizont, der die Sonne abends verschluckt, hat er mir erklärt, stehe für eine Freiheit, wo es keine Straßen und Zäune gibt, sondern nur Wind und Wellen und die Freude über neues Land in Sicht. – »Kleiner!«, hat mich die farblose Buchhalterfigur plötzlich angeschrien, während sie mir meinen mickrigen Sold entgegenstreckt. Ich scheine abwesend gewesen zu sein. Und, ehrlich gesagt, hätte ich fast gekündigt wegen des unfreundlichen Tons, es aber zum Glück nicht getan. Fahrig sollte man mich lieber nicht ansprechen. Da rutscht mir hin und wieder die Hand aus, das kann durchaus passieren. Meistens ist es nicht einmal absichtlich. Danach ärgere ich mich auch über mich, weil das leere Taschen bedeutet, doch mein Wesen kann ich nicht mehr ändern, glaube ich.
Dreizehn Wochen. Am selben Abend, als ich meinen Schein erhalten habe, ist mir ein netter Rabauke über den Weg gelaufen und hat mir vom Schiff erzählt, das Morgenröte heißt und bald in See sticht. Es würde eine spannende Reise ins Nordmeer werden und wäre außerdem meine Rettung, und ich bin ihm freilich, auf Arbeit hoffend, mit funkelnden Augen an den Lippen gehangen. Nun hat die Flucht nach vorne sich als Sackgasse herausgestellt und die Freiheit, von der mein Onkel so innig geschwärmt hat, als Falle. Da hilft auch die Vitalienschwester an Bord nicht weiter, und auch der blinde Passagier, den ich unlängst entdeckt habe, wird nicht viel mehr als die Endlosigkeit des freien Himmels und verschneite Fenster zu Gesicht bekommen haben. Es geht allmählich mit unserer Überlebenskunst zu Ende. Beim Dampfschiff ist der Dampf raus. Alle Geschichten, die ich erlebt habe, werden hier mit mir begraben werden: mein freudiges Lauschen zum wehmütigen Lied der Ankerwache ebenso wie der unbezahlbare Rat des Kalfatmeisters, mich gegen den Küchenjungen zu behaupten, indem ich mit meinem Klappmesser prompt die Nägel putze, jedes Mal, wenn er mich ruft – alle Erlebnisse werden ausnahmslos verschwinden, und niemand wird sie in Wirklichkeit je erfahren. Tja. Die Kunst, sich mit dem Verschwinden auszusöhnen und ins Vergessen einzugehen, soll erst einmal gelernt sein!