I. Zeit | Čas | Tempo II. TAKT | TAKT | BATTUTA III. ALTER | STAROST | ETÀ IV. Casa del Popolo | Val Pesarina
Wir stehen voll Bewunderung und Staunen vor alten Gebäuden, lassen die alten Leute hochleben, besonders wenn sie 100 werden, Oldtimer sind oft teuerer als Neuwagen, wir schätzen alte Weine mehr als den Heurigen. Was macht das Alte so besonders, so wertvoll?

Andererseits reißen wir Häuser nieder, wenn sie nicht unter dem Schutz von Denkmalämtern stehen oder gar als Weltkulturerbe eingestuft wurden, sagen dem Altern den Kampf an mit Botox, Lifting, Haarimplantaten und Potenzmitteln. Das neueste Smartphone lässt das Modell des Vorjahres alt aussehen. Was fasziniert am letzten Schrei?

Der Kultur-Tourismus lebt von der Historie, dem Vergangenen, dem Verfallenen, wirbt mit der Patina von Destinationen. Er lebt von Originalschauplätzen. So nennen wir diese Reiseziele. Originalschauplätze. Was aber ist das Original, der Ursprung? Die Reste des einstigen Weltwunders Artemistempel in Ephesus, ein paar Meter Römerstraße, ein Säulenkapitel ohne Säule zwischen Disteln? Die Touristen auf der Athener Akropolis fotografieren die Karyatiden der Korenhalle. Diese aber sind Nachbildungen, Kopien, die Originale wurden aus prophylaktischen Gründen vor weiterer Verwitterung ins Museum gestellt. Schadet das dem Tempel? Oder sollten wir vielleicht die Akropolis überhaupt als Ensemble wieder original herstellen? Schöner, mit weißem pentelischem Marmor und den von den Engländern geraubten Tempelfriesen? Oder präferieren wir den Torso, die Ruine, das Morbide, den russgeschwärzten Stein?
Soll Notre Dame so renoviert werden, wie vor dem Brand, oder wäre Platz für einen prächtigen Swimmingpool, was ein Architekt vorgeschlagen hat, die originale Notre Dame sei ohnehin nicht abgebrannt, sondern eine umgeformte, ergänzte Variation der Basilika, wie er argumentiert?

Oder haben wir Sehnsucht nach dem Vergangenen, der alten Zeit, schauen wir mit Hilfe von vergehenden Mauern und Steinen in die Zeit, die nie mehr kommen kann? Günter Grass nennt sie Vergegenzunft.

Möglicherweise ist es Hybris, über eine Zeit zu befinden, die nicht die unsere ist, sondern die Welt anderer Menschen war? Und was gibt uns das Recht dazu? Sind wir Richter, über Vergehen des nicht mehr Gegenwärtigen zu urteilen? Zumal wir in der misslichen Lage sind, dafür keine Zeitzeugen zu haben. Wir machen die vorgefundene Welt mit all ihren Überbleibseln selbst zu Zeugen einer Zeit, die wir mit irgendwelchen Begriffen ausgestattet haben, ihr Namen gegeben haben, in sie Projektionen aus heutiger Sicht gelegt haben.
Das größte Heiligtum in Japan ist der Ise-Schrein. Den Shinto-Schrein gibt es seit dem 5. Jahrhundert. Das Heiligtum besteht aus 65 Gebäuden, einfache Holzarchitektur, strohgedeckt. Es darf nur von Priestern und dem Kaiser betreten werden. Die Pilger – jeder Japaner sollte in seinem Leben dieses Heiligtum aufsuchen – können außerhalb eines Zaunes zumindest die Dächer des Heiligtums betrachten. Seit 673 werden alle 20 Jahre sämtliche Gebäude des Schreins abgerissen und genauso wieder aufgebaut. 2013 fand die 62. Erneuerung statt. Alles soll unverändert, ewig erscheinen, und doch nie alt. Was ist ewig in der Zeit und was immerwährend neu?
Wir stehen vor diesen wunderbaren Steinhäusern, den stavoli von Orias. Die Tiere haben die Ställe verlassen, in sie kehrte der Mensch kehrte zurück, Original hin oder her.