Bei Škocjan (Wanderung XIII)
 
Vorwort und Gebrauchsanweisung
 
Dass der Karst karg sei, abweisend und öde, ist ein Klischee des 19. Jahrhunderts, das bis heute die Erwartungshaltung vieler Reisender beeinflusst. Das Gegenteil trifft zu. Er ist so üppig wie einladend und von solcher Vielfalt, dass man sich fragt, warum es für Karst (nicht nur im Deutschen) keinen Plural gibt. Wie immer man ihn beschreibt, wird man ihm nur teilweise gerecht und bleiben wesentliche Aspekte ausgeblendet. Das entspricht der Morphologie des Karsts, der in seiner Vielschichtigkeit Rätsel aufgibt und unter der Oberfläche so manches Geheimnis verbirgt. Der Buchtitel Tiefer gehen verweist auf den Versuch, auch die weniger bekannten Seiten dieser Landschaft zu ergründen. Wenn dabei auch ihre Schattenseiten angesprochen werden, entspricht dies der Absicht, bei aller Begeisterung für die Schönheit des Karsts einen kritischen Blick zu bewahren. Der Anspruch auf Objektivität wird nicht erhoben.
Das gilt bereits für die geografische Eingrenzung, die sich kaum eindeutig vornehmen lässt: Als geologisches Phänomen ist der Karst überall zu finden, wo wasserlösliches Kalkgestein vorherrscht, und als Toponym taucht er in den unterschiedlichsten Regionen Sloweniens und Italiens auf. Fest steht lediglich, dass der »klassische« Karst im Triestiner Hinterland, bekannt als Kras und Carso, nur einen Bruchteil (nicht einmal den schönsten) dieser Landschaft umfasst und vor allem sein slowenischer Teil bedeutend größer ist. In diesem Buch »beginnt« der Karst daher südöstlich von Ljubljana, erstreckt sich über Ilirska Bistra bis Koper und »endet« an der Küste bei Monfalcone und Triest. Die entsprechenden Gebietsbezeichnungen lauten Notranjski kras (Krainer oder Tiefer Karst), Kraški rob (Karstrand), Slovenska Istra (Slowenisch Istrien), Trnovski gozd (Ternowaner Wald) und, wie erwähnt, Kras und Carso Triestino. Auch diese Namen spiegeln die Vielfalt des Karsts nur unzulänglich. Alle paar Kilometer können sich seine Gestalt, die Vegetation, das Klima, die Kulturlandschaft und die Ortsbilder ändern. Ganz zu schweigen von den kulturellen und sprachlichen Unterschieden, die ebenfalls oft kleinräumig und trotzdem grenzüberschreitend sind.
Um diese Landschaft in ihrer Vielgestalt und Schönheit mit allen Sinnen zu erfassen, ist das Wandern – wie fast überall – die beste und beglückendste Methode. Die von uns vorgeschlagenen Routen erschließen jeweils ein besonderes Gebiet, sind von unterschiedlichem Charakter und haben stets ihre eigenen »Themen«. Sie verstehen sich als Reisen von Dorf zu Dorf, führen durch alte Kulturlandschaften und verknüpfen das Naturerlebnis mit Ein-blicken in die Alltagskultur, Geschichte und Politik der jeweiligen Gegend. Ein wiederkehrendes Element sind historische Kulturwege und Saum-pfade – sie stellen die Grundvoraussetzung für eine angenehme Wanderung dar –, die verschiedenste Kultur- und Naturdenkmäler miteinander verbinden. Viele dieser Orte sind »Entdeckungen«, die in gängigen Reiseführern keine Rolle spielen und selbst Einheimische kaum beachten. Aufgesucht werden aber auch prominente Sehenswürdigkeiten des Karsts, darunter sogar Ziele des Massentourismus wie Postojna, Lipica oder Duino. Aus der Perspektive des Wanderers erscheinen selbst diese in neuem Licht.
Ungewöhnlich mögen für manche Leser auch die zwei- und dreisprachigen Ortsbezeichnungen sein. Nach Abwägung aller Argumente haben wir uns dafür entschieden, neben den gebräuchlichen Ortsnamen auch die veralteten deutschen sowie die zum Teil aus der Zeit des Faschismus stammenden italienischen Namen anzuführen. Es ist uns bewusst, dass erstere von den Nationalsozialisten zur Rechtfertigung territorialer Ansprüche missbraucht wurden und letztere einer rücksichtslosen Italianisierung der slowenischen Bevölkerung dienten. Wir halten es aber zugleich für wissenswert, welche Herrschaftsnamen einst in Verwendung waren. Politisch inkorrekt sind zweifellos die nicht geschlechterspezifischen Formulierungen in diesem Buch. So ist in unseren Texten meist von »man« und »Wanderern« u. ä. die Rede, allerdings nur aus Gründen sprachlicher Einfachheit und keinesfalls in Geringschätzung der weiblichen Leserschaft.
Wer mit offenen Augen im Karst unterwegs ist, wird feststellen, dass seine landschaftliche Schönheit nicht ungebrochen ist. Zum einen wird die Region von mehreren Autobahnen durchschnitten (was eine ansprechende mehrtägige Weitwanderung fast unmöglich macht), zum anderen schreitet die Zersiedelung allenthalben fort. Betrüblich ist vor allem die zunehmende Ortsbildzerstörung durch hässliche Neubauten und »Verschönerung« des alten Bestands. Die Herausforderungen für diesen Wanderführer bestanden darin, Routen zu gestalten, die trotz allem das Bedürfnis nach landschaftlicher Harmonie befriedigen, ohne ausschließlich in unversehrte Natur abseits der Ortschaften auszuweichen. Wer im Karst wandert, darf sich keine heile Welt erwarten, sondern eine Landschaft, die ihren Reiz nicht zuletzt aus ihren Brüchen und Widersprüchen bezieht.
 
***
 
Ein unschätzbarer Vorzug des Karsts besteht darin, dass man ihn zu jeder Jahreszeit bewandern kann. So sind im Sommer, von besonders heißen Tagen abgesehen, fast alle Routen machbar und empfehlen sich im Winter, der manchmal geradezu frühlingshafte Tage hat, vor allem die Touren in Küstennähe. Konkurrenzlos schön, ob im Norden oder Süden, ist die Landschaft im Frühjahr, der Zeit der blühenden Wiesen; eine Explosion der Farben erlebt man bei den Wanderungen im Herbst. Ein Kapitel für sich ist die stürmische Bora, der Karstwind, der Wanderer fast umzuwerfen vermag, aber oft für eine wunderbare Fernsicht sorgt.
So oder so sollte man, um die Wanderungen uneingeschränkt genießen zu können, auf die richtige Ausrüstung achten. Zwar bewegt man sich kaum im Gebirge, festes Schuhwerk, lange Hosen, Wind- und Regenschutz sollten aber selbstverständlich sein. Unerlässlich ist auch die Mitnahme von genügend Trinkwasser, finden sich doch im Karst nur selten Trinkwasserquellen und zugängliche Brunnen. Verzichten kann man auf einen Kompass, da man sich größtenteils im Offenen oder in der Nähe von Ortschaften bewegt und ein Gutteil der Wanderwege markiert ist. Wer die detaillierten Wegbeschreibungen befolgt und die beigefügten Kartenausschnitte zu deuten weiß, sollte mit der Orientierung keine Probleme haben. Auch die angegebenen Gehzeiten sind, sofern man ein durchschnittliches Tempo einhält, gut zu bewältigen. Hinzuzurechnen sind jedoch die Rastpausen und Ortsbesichtigungen, die – je nach eigenem Bedürfnis und im Fall von Einkehrmöglichkeiten – bis zu drei Stunden ausmachen können. Die entsprechenden gastronomischen Tipps verstehen sich als Momentaufnahmen und nicht als Empfehlungen für verwöhnte Gourmets. Nicht immer bieten die am Wege liegenden Gaststätten ungetrübte Gaumenfreuden, auch die Unterkünfte lassen gelegentlich zu wünschen übrig. Nur auf den Wein (mit dem man z. B. auf das Wohl der Autoren dieser Zeilen anstoßen kann) ist fast überall Verlass.
 
Gerhard Pilgram, Wilhelm Berger und Werner Koroschitz
 
PS: Aktualisierungen, ergänzende Texte und Leserreaktionen sind unter www.unikum.ac.at abrufbar. Die Autoren freuen sich über jede Rückmeldung: unikum@uni-klu.ac.at

textproben | HOME